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Joe (23 Jahre)

Als ich 15 war, war das Stottern bei mir besonders stark ausgeprägt. Oder, um es genauer zu sagen: meine Angst vor dem Stottern war besonders stark ausgeprägt. Mein Stottern unterscheidet sich heute auch nicht von dem zu dieser Zeit, aber heute habe ich keine Angst mehr davor.

Die Angst vor dem Stottern war deshalb so groß, weil ich erst in der neunten Klasse mein eigenes Stottern bewusst wahrgenommen habe.

Vorher war es natürlich auch da, aber ich habe einfach nicht darüber nachgedacht.

Für einen 15-jährigen ist dies natürlich besonders schlimm, schließlich wird man langsam erwachsen und will den Mädchen nicht mehr nur an den Haaren ziehen. Mein Selbstvertrauen war damals ohnehin eher bescheiden, um nicht zu sagen nicht vorhanden. Ich war nicht sonderlich attraktiv und hatte schwere Akne.

Dazu kam dann noch das Stottern, das dazu führte, dass ich in der Schule regelrecht verstummte und wenn ich was sagen musste, löste ich regelmäßig große Lachanfälle aus.

Die Mädchen, denen ich eigentlich gefallen wollte, bedachten mich mit mitleidigen Blicken, was noch deutlich schlimmer ist, als gar nicht beachtet zu werden. Zu meiner großen Überraschung wurde ich von einer älteren und sehr attraktiven Mitschülerin auf eine Silvesterparty eingeladen. Sie, ihre Schwester und eine Freundin wollten mich abholen, ich sollte sie nur noch mal anrufen, um den Treffpunkt abzusprechen.

Einerseits war ich natürlich froh und glücklich - nicht weil ich verliebt gewesen wäre, aber es war ein Mädchen, sie war älter (ist sie heute immer noch...) und galt gemeinhin als "cool". Trotzdem machte ich mir keine großen Hoffnungen, dass ich je zu dieser Party gelangen könnte. Schließlich musste ich sie noch mal anrufen. Aber jeder, der stottert weiß, telefonieren ist vermutlich das Schlimmste überhaupt. Der reine Horror und um jeden Preis zu vermeiden. Wenn zu Hause das Telefon klingelte und ich war alleine, ließ ich es weiter klingeln. Wenn ich irgendwo anrufen musste, sei es um einen Friseurtermin auszumachen oder mich mit einem Freund zu verabreden, spürte ich mein Herz klopfen. Es hämmerte gegen meine Brust sobald ich den Hörer in der Hand hatte.

Immer wenn ich Cartoons sehe, in denen einer Figur das Herz aus der Brust und wieder hinein springt, muss ich an damals denken.

Gleichzeitig begann ich zu schwitzen und mir schnürte es regelmäßig die Kehle zu. Die Folge dieser Panikreaktion war natürlich, dass ich gestottert habe, was beim nächsten Anruf logischerweise wieder zu einer Panikattacke führte. Ein Teufelskreis!

Zurück zur Silvesterparty. Inzwischen war meine Angst vor dem Telefonieren so groß, dass mich keine zehn Pferde an den Hörer gebracht hätten. Ich nahm mir zwar vor trotzdem zu telefonieren, aber sobald ich 2 Zahlen gewählt hatte, war der Vorsatz dahin. Wie sollte ich also zu dieser Party gelangen? Es waren ja Schulferien, ich musste also anrufen (ach ja, Handys gab’s damals noch nicht, bzw. mit 15 hatte man einfach noch keins. Das heißt, SMS schreiben war keine Option).

Ich bin dann zu meinem kleinen Bruder (14), der sich das Ganze zwar nicht so recht erklären konnte, aber immer mit mir gelitten hat und mich ermutigte, meine Angst zu überwinden. Ich habe ihn gebeten, meine Mitschülerin anzurufen, ihr zu sagen, ich sei nicht zu Hause und würde erst spät abends zurückkommen, deshalb müsse er für mich anrufen und den Treffpunkt ausmachen. Ich stand natürlich neben ihm und lauschte meinem Telefonat, das er für mich führte. Ich möchte mir nicht das Gesicht meiner Klassenkameradin am anderen Ende der Leitung vorstellen.

Ich wollte jemandem gefallen und deshalb mein Stottern verbergen (obwohl sie es natürlich längst kannte) und ließ stattdessen meinen kleinen Bruder bei ihr anrufen.

Nicht grade das, was man sich unter "cool" vorstellt.

Heute ist das für mich zum Glück alles kein Problem mehr. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte meinen kleinen Bruder drei Jahre später bei meiner ersten Freundin anrufen lassen, damit er mich zum ersten Date mit ihr verabredet...

Heute stottere ich zwar immer noch, aber die Angst ist nicht mehr da. Ob das in der Uni ist oder am Telefon, wenn ich was zu sagen habe, dann tue ich das auch.